„Glutenfrei“-Trend nervt selbst Betroffene

 

Ohne Diagnose und ohne Not verzichten immer mehr Menschen auf jegliche Lebensmittel, die auch nur Spuren von Weizen enthalten. Dabei hilft das weder beim Abnehmen noch ist es gesünder. Pizzateig ohne Gluten, Brötchen aus Reismehl: Die durchgestrichene Ähre redet Verbraucher oftmals ein, dass die Lebensmittel gefühlt besser, auf jeden Fall gesünder sind. Spätestens die nächsten Bauchschmerzen lassen die Alarmglocken schrillen: Das kann nur eine Zöliakie sein! Es ist der Weizen!

Es sind gar nicht so viele…

Es sind aber nur sehr wenige Menschen, die wegen der Autoimmunerkrankung Zöliakie tatsächlich kein Gluten vertragen, sagt die Ernährungsexpertin Astrid Laimighofer.

Gluten entsteht, wenn sich die Eiweiße der Getreidesamen durch Feuchtigkeit verbinden. Die meisten Getreidesorten wie Weizen, Dinkel und Roggen enthalten diese Eiweiße und bilden Gluten. Wer darauf verzichtet, schränkt seine Auswahl an Lebensmitteln dementsprechend enorm ein, sagt Antje Gahl von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Und das ohne Not: Sich so zu ernähren ist weder gesünder noch hilft es beim Abnehmen, wie viele hoffen.

Glutenfreie Produkte oft mit mehr Kalorien

Produkte ohne Gluten sind nicht kalorienärmer, stellt Laimighofer klar. Weil das Klebeeiweiß fehlt, sind sie häufig trockener. „Um das auszugleichen und den Geschmack zu verbessern, ist meist der Anteil an Zucker und Fett in solchen Produkte höher“, erklärt Bianca Maurer von der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft. Sie enthalten also häufig nicht weniger, sondern sogar mehr Kalorien. Dafür fehlen sättigende Ballaststoffe. Man isst also tendenziell mehr, um satt zu werden.
Wer sich nicht abwechslungsreich und ausgewogen ernährt, dem droht zudem ein Mangel an wichtigen Nähr- und Mineralstoffen – „zum Beispiel an den Vitaminen K, B1, B2 oder B6 und Mineralstoffen wie Magnesium, Zink oder Kupfer“, sagt Gahl. Außerdem seien Getreide wichtige Ballaststofflieferanten und unterstützen durch ihre präbiotische Wirkung die Darmflora. Auch das kann durch den Verzicht beeinträchtigt werden. Ernährt man sich ansonsten gesund, ist allerdings auch ohne Weizen und Gluten kein Mangel zu befürchten, sagt Laimighofer.

Glutenfrei nur bei echter Zöliakie

Glutenfrei ernähren sollte sich nur, wer tatsächlich eine Zöliakie hat. Bei Patienten mit dieser Autoimmunerkrankung löst das Klebeeiweiß eine chronische Entzündung der Dünndarmschleimhaut aus. Gar kein Gluten zu sich zu nehmen, ist allerdings nicht so einfach. Viele Getreidesorten, Fertiggerichte und sogar Wurst- und Käsewaren enthalten Gluten. Laut der DGE-Infothek „Essen und Trinken bei Zöliakie“ kann der Klebeeiweiß auch in Süßwaren, in Medikamenten und sogar Zahnpflegeprodukten verarbeitet sein. Wer sichergehen will, sollte daher immer auf das Etikett schauen. „Reis, Mais, Quinoa, Amaranth, Buchweizen, Hirse und die Produkte daraus sind von Natur aus glutenfrei“, sagt Laimighofer. Für Patienten, die Zöliakie haben, wurden zudem Ersatzprodukte entwickelt.
Eine Zöliakie zu erkennen ist eine Sysiphusarbeit. Die Symptome sind nicht eindeutig: Betroffene Kinder leiden zum Beispiel häufig an Eisenmangel, Wesensveränderung wie Weinerlichkeit oder sie wachsen nicht mehr. „Bei Erwachsenen können Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Depressionen oder gar Unfruchtbarkeit auftreten“, sagt Maurer. Bauchschmerzen und Durchfall hingegen, die viele mit Zöliakie verbinden, treten bei vielen Betroffenen gar nicht auf. Mediziner bezeichnen Zöliakie deshalb auch als „Chamäleon unter den Krankheiten“, sagt Maurer.

Einzige Therapie bei Zöliakie ist Verzicht

Besteht ein Verdacht, machen Ärzte zuerst einen Bluttest. „Betroffene tragen zöliakietypische Antikörper in sich“, sagt Bianca Maurer. In dem Test werden diese nachgewiesen. Ob jemand wirklich Zöliakie hat, zeigt aber erst eine Magenspiegelung, bei der eine Probe aus dem Dünndarm entnommen wird. Ist die Unverträglichkeit einmal bestätigt, hilft nur eine Ernährungsumstellung. „Betroffene müssen die Getreidesorten ihr Leben lang strikt meiden, das ist die einzige Therapie für ein beschwerdefreies Leben“, sagt Maurer. Bestätigt sich die Diagnose nicht, kann es auch sein, dass der Betroffene eine Weizenallergie hat. In diesem Fall reicht ein Verzicht auf Weizenprodukte.

Die Deutsche Zöliakie-Gesellschaft findet den Trend zum Weizen- oder Glutenverzicht ohne medizinischen Grund alles andere als gut. Zwar gibt es dadurch mittlerweile viel mehr Ersatzprodukte. Wer tatsächlich Zöliakie hat, fühlt sich aber manchmal gar nicht mehr ernst genommen, meint Maurer. Die Leute würden eher so angeschaut, als verzichteten sie auf Gluten, weil es gerade schick ist.

Den Expertinnen zufolge ist das kein guter Grund. Sich unnötig weizen- oder glutenfrei zu ernähren, schränkt nicht nur ein – es ist auch teuer. Denn häufig kosten glutenfreie Produkte mehr als normale.

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